Armut bezeichnet einen Zustand des Mangels, der vor allem an der Verfügbarkeit materieller Güter gemessen wird. Er tritt ein, wenn eine Versorgungsnotlage nicht zeitlich beschränkt auftritt, sondern für die Lebenslage insgesamt bestimmend wird.*
Armut und soziale Ausgrenzung haben viele Gesichter
Armut und soziale Ausgrenzung sind in den letzten 20 Jahren immer mehr vom Rand der Gesellschaft in das Zentrum der Gesellschaft gerückt. Dazu haben vor allem drei Entwicklungen beigetragen: die Deregulierung der Arbeitsmärkte, die Weichenstellungen der EU zur Haushaltskonsolidierung und die Finanz- und Wirtschaftskrisen. Seit den 90er Jahren hat die Deregulierung der Arbeitsmärkte anstatt der Chancengleichheit die Ungleichheit zwischen den Arbeitskräften als neues Paradigma eingeführt. Dadurch wurden Löcher in die sozialen Schutzsysteme gerissen. Rigorose haushaltspolitische Diktate der EU veranlassten die einzelnen Staaten dazu, Kürzungen bei den als zu großzügig angeschwärzten Sozialsystemen als Instrumente zur Haushaltskonsolidierung zu nutzen. Empfindliche Einschnitte in die Systeme der sozialen Sicherung sorgten dafür, dass sozial schwächere und benachteiligte Menschen nur mehr unzureichend gegenüber die Lebensrisiken von Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit abgesichert wurden. Die Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008 verursachten einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und wirkten als Verstärker der sozialen Ungleichheit.
Es entstanden neue soziale Brennpunkte an den Rändern der Wohlstandsgesellschaft. Vor allem Menschen mit keinen oder niedrigen Ausbildungsabschlüssen, Arbeitslose oder prekär Beschäftigte entwickelten das Gefühl, von den Wohltaten des Wohlstands ausgeschlossen zu sein. Das Gefälle zwischen Arbeitskräften mit guter und unzureichender sozialer Absicherung hat die Tendenzen zur Entsolidarisierung befeuert. Sie hatten jedoch jeweils ganz unterschiedliche Ausgangslagen in den Verhandlungen zur Absicherung und für den Ausbau der jeweiligen lohnpolitischen und sozialrechtlichen Positionen. Mit den umfangreichen Migrationsströmen aus den Kriegsgebieten und aus Ländern ohne wirtschaftliche Entwicklungsperspektive haben diese gesellschaftlichen Prozesse eine zusätzliche Dynamik erhalten, die die Kohäsion der Gemeinschaften ernsthaft auf die Probe stellt.
In all den Jahren war zu beobachten, dass in der Öffentlichkeit Phänomene, die das Selbstverständnis einer erfolgsorientierten Gesellschaft erschüttern, weitgehend nur anlassbezogen wahrgenommen und dann wieder den „zuständigen Stellen“ überlassen werden. Erst die statistisch abgesicherte Erkenntnis einer massiven Verbreitung der Armut in den industrialisierten Wohlstandsländern hat dazu geführt, dass Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung auf der politischen Agenda nach oben gereiht wurden. Die EU hat die Armutsbekämpfung zwar schon auf dem Lissabon-Gipfel von 2000 als prioritäre Zielsetzung festgelegt, aber die Politik in den einzelnen Ländern hielt weiterhin an den Sparhaushalten und an der Entmantelung des Sozialstaates fest. Mit der UN-Agenda 2030 zur nachhaltigen Entwicklung wurde 2015 auf globaler Ebene eine umfassende Entwicklungsstrategie festgelegt, in der die Armutsbekämpfung als 1. Zielsetzung aufscheint. Sie ist organisch mit weiteren Zielen verbunden, die auch unter dem Menetekel der Gefährdung der ökologischen Lebensgrundlagen eine gedeihliche Entwicklung anbahnen sollen. Dieser Leuchtturm im Ozean der Widersprüche unserer Profit- und Konsumgesellschaft strahlt bis auf die regionale Ebene aus und aktiviert die Politik genauso wie die Zivilgesellschaft.
Auch in Südtirol sind viele Menschen von Armut betroffen. Und es gibt Menschen mit unterschiedlichen Benachteiligungen, denen es schwerfällt, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in das soziale Leben zu integrieren. Öffentliche und gemeinnützige private Einrichtungen sind bemüht, Risiken zu vermindern und den betreffenden Personengruppen Hilfestellungen zu geben. Der Dachverband für Soziales und Gesundheit weiß von den vielfältigen Formen von Armut, weil sich seine Mitgliedsorganisationen für gefährdete Menschen einsetzen und diese beraten und betreuen. Sie kennen persönliche Schicksale und Perspektiven, wo es nicht nur an Einkommen, sondern oft auch an sozialen Netzwerken, an Gemeinschaftsanbindung oder auch an Bildungsabschlüssen fehlt - und der Weg in die Normalität einer stabilen Arbeitstätigkeit, die existenzsichernd ist, sehr beschwerlich ist.
Damit benachteiligte Menschen mehr und bessere Chancen erhalten, ihren Weg selbständig und selbstwirksam zu gestalten, muss Armutsbekämpfung zu einem gemeinsamen gesellschaftlichen Anliegen werden. Alle gesellschaftlichen Kräfte, von den öffentlichen Stellen über die sozialen Organisationen und die Sozialpartner bis hin zu den Unternehmen, Vereinen und Verbänden sollen daran mitwirken. Der Dachverband für Soziales und Gesundheit hat gemeinsam mit KVW, Caritas, Vinzenzgemeinschaft und Gruppe Volontarius im September 2020 eine Tagung organisiert, um alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure zu diesem wichtigen Thema ins Gespräch zu bringen. Die vorliegende Studie ist ein weiterer Baustein, um zum Thema Armut zu sensibilisieren und Informationen zur Verfügung zu stellen. In ca. 20 Interviews mit Expertinnen und Experten wurden Zugänge, Engagement und Breite der Hilfstätigkeiten der einzelnen sozialen Organisationen, Behörden und Institutionen aufgezeigt und Anregungen und Hinweise für eine wirksame Armutsbekämpfung gesammelt. Darauf gestützt wird der Dachverband für Soziales und Gesundheit erneut auf die verschiedenen Organisationen zugehen, um abgestimmte Initiativen voranzubringen und als Netzwerk den Anliegen der benachteiligten und ausgegrenzten Menschen eine Stimme zu verleihen.